kommentierter Redebeitrag von Anne Wolf am 7. Februar 2022 – begonnen auf der Kundgebung „Mein Körper, meine Wahl“ und beendet auf der Versammlung vom Bündnis Greifswald für Alle „Solidarität statt Hass, Fake News und Hetze“
Die Greifswalder Querdenker*innen haben uns per längerem Schreiben auf facebook eingeladen: Nach 20 Uhr, nach dem Ende ihrer Kundgebung am 7. Februar würden sie gern mit uns ins Gespräch kommen. Natürlich ist das ein scheinheiliger Antrag – und so spricht Jordan es auch in einem ersten Redebeitrag auf der Mahnwache von „Greifswald für alle“ aus. Vielleicht müssen die Verfasser*innen auf der anderen Seite des Marktes aber doch einmal hören, was das Problem ist: Nämlich nicht ihre völlig legitime Nutzung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung, sondern die Gesellschaft, in der sie sich befinden sowie die grundsätzlich antidemokratische und unwissenschaftliche Haltung, die bei den Querdenker*innen Usus ist.
Ich frage den Versammlungsleiter, Herrn Pieper, ob die Möglichkeit bestünde, am Mikrophon auf „seiner“ Seite des Marktes zu sprechen. Er bejaht dies und ist mit fünf Minuten einverstanden. Ich möge bitte pausieren, falls Buhrufe zu laut würden; und wenn die Ablehnung zu heftig werde, müsse man eventuell auch abbrechen.
Bevor ich die Bühne betrete, kommt Thomas Putensen herunter. Als Lokalgröße in Sachen Musik hat er – wie fast jeden Montagabend – aufgespielt. In den letzten Jahren ist er weniger durch überzeugende künstlerische Projekte als vielmehr durch das Verbreiten von Verschwörungsmythen und seine Nähe zur Greifswalder Provinz-PEGIDA aufgefallen, mit der er sich auch immer wieder gern eine Bühne geteilt hat. Er steht (nicht allein natürlich) für die auch personelle Kontinuität der verschiedenen Montagswahnmachen. Sollte er jemals wirklich zukunftsweisende Ansichten gehabt haben, muss das auf jeden Fall schon lange her sein. Er begrüßt mich mit ausgestreckter Hand und einem Lächeln, das sich auf die hochgezogenen Mundwinkel beschränkt: „Ich bin der Thomas.“ Es ist keinesfalls unsere erste Begegnung, aber ich verkneife mir das Augenrollen: „Ich weiß. Ich habe deinen Sohn mehrere Jahre lang unterrichtet.“ Ich hebe die Hände und signalisiere, dass ich ihm nicht die Hand geben werde. Er nimmt das – natürlich – als Affront. „Abstand ist der neue Anstand“, sage ich noch über die Schulter und steige die Stufen zu Herrn Pieper hinauf, der mir das Mikro reicht und dann die kleine Bühne verlässt. Auf dem Platz ist es still, als ich beginne.
Immer wieder haben die Querdenker*innen betont, ihr Mikro sei ein offenes. Sie haben sich sogar beschwert, dass andere Menschen als sie davon keinen Gebrauch machen wollten. Wir werden sehen, was geschieht, wenn dort jemand spricht, der andere Überzeugungen vertritt als sie.
Guten Abend.
Das Bündnis „Greifswald für alle“ hat Post bekommen; und an genau die Absender*innen jenes Schreibens richten sich die folgenden Worte. Also:
Sehr geehrte Damen („Verkäuferinnen, Auszubildende“) und Herren („Ärzte, Rechtsanwälte, Physiotherapeuten, Krankenpfleger, Ingenieure, Handwerker, Schüler, Studenten, Auszubildende und weitere Berufsgruppen“):
Wie Sie selbst in Ihrem Brief an das Bündnis „Greifswald für alle“ betonen, steht auf dieser Seite des Marktes heute abend keinesfalls eine homogene Gruppe.
Hier gibt es ein wenig Unruhe. Sicher kennen nicht alle Leute auf dieser Seite den Brief und seinen Inhalt, man ist augenscheinlich teils nicht einverstanden.
Diejenigen von Ihnen, die an uns geschrieben haben, haben dies in einem respektvollen und auch um Verständnis werbenden Tonfall getan.
Wir werden hier nicht auf alle Punkte in Ihrem Schreiben eingehen; zum Beispiel: In der Analyse der Frage, ob – und warum – die Krankenhäuser, die Ärzt*innen und Pflegenden seit langer Zeit über alle Maßen belastet sind oder wie sich für alle jungen Menschen wieder eine weniger beschwerte Kindheit und Jugend gestalten ließe, vertreten wir gut begründet und auf dem Boden der Tatsachen ganz andere Auffassungen als Sie. Anders als Sie beschäftigen uns die – wirklich sehr seltenen – möglichen Impfkomplikationen erheblich weniger als die Tatsache, dass an Corona weltweit bereits 5,8 Millionen, in Deutschland allein schon fast 120.000 Menschen gestorben sind.
Die Unruhe, die während dieses Absatzes aufkommt, entlädt sich nun lauter: „Blödsinn!“, „Lüge!“, tönt es mir entgegen; es gibt Buhrufe. (Nachtrag: Mehr Informationen über die Zahl der Coronatoten sind hier zu finden.)
Missverständnisse zwischen Ihnen und uns können wir an keiner Stelle erkennen, da gibt es also nichts zwischen uns zu klären. Aber dennoch finden wir, dass Ihr Schreiben eine Antwort verdient.
Trillerpfeifen, Gelächter.
Erstens: Einige von Ihnen haben Befürchtungen bezüglich der Impfung gegen Corona. Sie haben grundsätzliche Bedenken gegenüber noch so neuen wissenschaftlichen Errungenschaften, oder Sie haben (Ihrem Brief zufolge) schlechte Erfahrungen mit einer ersten Impfung gemacht. Wir empfehlen Ihnen sachliche Gespräche mit Ihren Hausärzt*innen oder, falls Ihnen der Gedanke an eine Spritze – egal, mit welchem Inhalt – schon immer Unbehagen bereitet hat, zum Beispiel mit der Psychologin Prof. Dr. Brakemeier. (Link 1, Link 2, Link 3, Link 4)
Hier setzt nicht nur höhnisches Gelächter, sondern auch lautstarke Empörung ein.
Vor gut zwei Wochen, am 22. Januar, bestand hier auf dem Markt die Möglichkeit, bei einer von verschiedenen Institutionen organisierten Informationsveranstaltung mit Frau Brakemeier, aber auch mit vielen anderen in Politik oder Medizin engagierten Menschen ins Gespräch zu kommen. Sie haben solche Informations- und Dialogangebote bislang nicht genutzt, aber vielleicht entwickeln Sie ja noch Interesse.
Die Menge vor mir wird so laut, dass ich kurz innehalten muss. Was mir durch den Kopf geht: „Das sind die Leute, die für sich einfordern, dass wir ihre Schein-Argumente ernst nehmen. Und dabei sind es sie selbst, die alle faktenbasierten Angebote – auch die zum Dialog – nicht annehmen wollen.“
Zweitens: Sie wünschen sich heute abend um acht den Dialog mit uns, also mit dem Bündnis „Greifswald für alle“. Ich weiß gar nicht – warum eigentlich? Was haben Sie denn mit uns zu besprechen? Fühlen Sie sich getroffen von unserer Einordnung der Kundgebungen, auf denen Sie sich immer wieder gern einfinden?
In diesem Falle haben wir einen Vorschlag für Sie: Ja, suchen Sie unbedingt den Dialog.
Suchen Sie den Dialog mit dem Mann, der jede Woche wieder diese Veranstaltung eröffnet: Das ist Andreas Pieper. Herr Pieper bezeichnet die Regierung gern als „Obrigkeit“ (und das ist in einem demokratischen Staat eine unheilvoll tendenziöse Aussage).
Hier gibt es laute Buhrufe und anhaltende Trillerpfeifen. Augenscheinlich ist die Menge sehr wohl mit Herrn Piepers Wortwahl, nicht aber mit meiner Einordnung einverstanden. Wirklich leise wird es jetzt nicht mehr werden.
Herr Pieper ist überzeugt, dass es sich bei dem Angriff auf das World Trade Center …
… und hier wird es sehr laut und unruhig. Ich muss warten, sage schließlich das Offensichtliche: „Fakten sind wirklich nicht so Ihrs, oder?“. Herr Pieper fordert die Menge per Geste zur Ruhe auf. Ich fange nochmal an, jetzt und bis zum Ende begleitet von immer lauter, auch aggressiver werdenden Zwischenrufen:
Herr Pieper ist überzeugt, dass es sich bei dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 nicht um einen terroristischen Anschlag handelte (was schlicht nicht stimmt).
Zwischenruf hier: „Darum geht’s doch gar nicht!“ Aber ja, genau darum geht es eben doch: Der Versammlungsleiter selbst ist seit Jahren Anhänger verschiedener Verschwörungsmythen und hat auch Vorträge zu entsprechenden Interpretationen der Wirklichkeit gehalten.Wenn jemand mit solchen Tendenzen nun ein neues Thema – also Corona und alles, das in medizinischer, politischer, rechtlicher, gesellschaftlicher Hinsicht damit zu tun haben mag – für sich entdeckt hat, so darf man von vornherein Zweifel an einem redlichen Umgang mit dem bewussten neuen Thema haben. Und diese Zweifel haben sich in den letzten Wochen jeden Montag weiter erhärtet und sind längst Gewissheit.
Herr Pieper hat Menschen wie mich schon als „verblödete Antifanten“ bezeichnet …
Hier bleibt nicht nur die Unruhe bestehen, sondern es wird applaudiert. Man stimmt Herrn Pieper in seiner Wortwahl zu. Ich füge ein:
Dass Sie jetzt applaudieren, zeigt, wie viel Respekt sie wirklich vor anderen Menschen haben. Ich weise darauf hin, dass dieser Begriff in rechtsextremen Kreisen beliebt und gängig ist.
Und hier gibt es anhaltenden Applaus. Wofür? Für die rechte Ausdrucksweise? Für die rechtsextremen Kreise? Viel anderes kann es gerade doch nicht sein, oder?
Suchen und finden Sie den Mann – fürs Gespräch – , der am letzten Montag ein Kleidungsstück mit der Aufschrift „Stop White Genocide“ (also: „Stoppt den Völkermord an Weißen“) getragen hat…
Es wir immer lauter: „Aufhören!“, als Sprechchor auch: „Hau ab!“- Die entsprechende Person ist auch heute auf dem Platz, in derselben Aufmachung. Schon vor Beginn meiner Rede war aus unserer Versammlung heraus per Megaphon darauf hingewiesen worden. Bei den Querdenker*innen nahm man den Hinweis so entgegen, als verstünde man nicht recht; weitere Konsequenzen hatte es nicht gegeben.
… und trinken Sie eine Tasse Tee mit ihm. Das wird bestimmt ein interessanter Austausch über Menschenrechte.
Hier betritt der Versammlungsleiter, Herr Pieper, die Bühne, fordert mich zum Gehen auf und nimmt mir das Mikrophon aus der Hand.
Als ich mich dem Flatterband nähere, schreit mich eine Frau an: Nun hätten wir uns ja wirklich selbst entlarvt. „Großartig! Dass Sie das gar nicht merken!“, schreit sie, viel zu nah (und ohne Maske) an meinem Gesicht. Jemand anders läuft mir aus der Querdenker*innen-Veranstaltung noch hinterher und lässt es sich nicht nehmen, mich an der Schulter zu schubsen: „Geh woanders weiterstänkern!“ Ich denke an den Satz von Hannah Arendt: „Es ist eine Erscheinungsform von Realitätsflucht, mit Tatsachen so umzugehen, als handle es sich um bloße Meinungen.“
Teile dessen, was ich eigentlich gern noch gesagt hätte, spreche ich auf der Versammlung von „Greifswald für alle“ anschließend noch aus. Ich bedaure es, dass die Querdenker*innen sich selbst nicht erlaubt haben, die folgenden Sätze zu hören und vielleicht auch zu bedenken.
Denn es geht bei den Versammlungen um einiges mehr als um die Frage, ob man eine Impfung gegen Corona für sinnvoll oder für gefährlich hält. Es geht (in der Art und Weise, wie die angeblich so friedlichen Spaziergänger*innen mit allen von ihnen berührten Themen umgehen) darum, wie man Tatsachen betrachtet – und ob man sie überhaupt wahrnehmen kann und will. Schon hier geht jeglicher sinnvolle Grundkonsens verloren. Und, nein: Keinesfalls kann man sich in dieser Frage „irgendwo in der Mitte“ treffen. Gegenüber der Lüge (und es handelt sich hier um Lügen mit deutlicher Intention) kann man sich jetzt und in Zukunft nur abgrenzen.
Kaum bin ich wieder auf der Kundgebung von GfA angekommen, spricht mich jemand an, den ich noch gar nicht kenne: Er habe frühere Kumpel auf der anderen Seite erkannt, „das sind rechte Hools, polizeilich eingestuft als Gefährder, die machen da mit. Und da ist auch Martin, der neulich bei der AfD-Demo gesprochen hat. Ich hab Pieper vor ein paar Tagen gefragt, warum er sich von diesen Leuten nicht abgrenzt. Und er hat mir geantwortet: Die wolle er ja gerade ansprechen. Die brauche er.“ Soviel dazu. Ich bin dem jungen Mann sehr dankbar, dass er diese Worte auch bei uns am Mikrophon wiederholt hat.
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Suchen Sie die Menschen, die immer wieder montags auf Ihren Veranstaltungen per Plakat zur Selbstjustiz aufgerufen haben („Dexter help“) oder ein „Nürnberg 2.0“ gefordert haben, mit Blick auf die gegenwärtige Regierung und in Anspielung auf die Nürnberger Prozesse gegen Kriegsverbrecher nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dass diese Plakate heute nicht mehr hochgehalten werden, ist sicher eine rein kosmetische Maßnahme. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei sachlichen Gesprächen mit den Urheber*innen solcher Aussagen, falls Sie sie finden können.
Ganz sicher können Sie auch mit Freunden der AfD, der Identitären Bewegung oder des Dritten Weges ins Gespräch kommen, wenn Sie sich mal kurz umschauen. Andere Teilnehmer*innen Ihrer Kundgebung helfen Ihnen sicher gern weiter, falls Sie selbst sich nicht so gut auskennen.
Diskutieren Sie mit all diesen Leuten gern zu ihrer Haltung gegenüber der modernen Wissenschaft, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. DAS sind die Leute, mit denen Sie dringend reden müssen; nicht wir.
Ja, es ist wahr: Hier stehen heute abend mindestens zwei Gruppen von Menschen. Wenn Sie zu denen gehören, die jenen Brief an das Bündnis Greifswald für alle gerichtet haben; wenn Sie Menschenrechte und Menschenwürde für wichtig und unabdingbar halten, dann bleibt Ihnen eigentlich nur eins übrig: Dann müssen Sie jetzt gehen.
Wenn Sie das jetzt nicht tun, setzen Sie ebenfalls ein klares Zeichen. Dann sind Sie ganz offensichtlich bereit, mit Leuten gemeinsam auf die Straße zu gehen, die andere Menschen verachten und sie mit Hass und Hetze überziehen; die fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse nicht akzeptieren; die kein Vertrauen haben in Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Demokratie.
Kein Ziel auf Erden ist es wert, dass man sich mit solchen Leuten gemein macht.
Wenn Sie jetzt bleiben und sich bewusst zu Verbündeten dieser Leute machen: Dann haben wir erst recht nichts miteinander zu besprechen.
Alternative Fakten gibt es nicht. Verschwörungsmythen sind nicht nur Unsinn, sondern auch gefährlich. Und Menschenhass ist keine legitime Meinung, über die sich an runden Tischen sprechen ließe.
Mit all denen, zu denen Sie – die Absender*innen des Schreibens an uns – hoffentlich NICHT gehören, werden wir aus genau diesen Gründen niemals auf Augenhöhe diskutieren. Und wir sind gespannt, ob Sie sich nun tatkräftig distanzieren oder ob Sie eben doch Teil dieser Gruppe sein und bleiben wollen.
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Fazit am Ende des Tages: Niemand hat sich distanziert, weder verbal noch körperlich. Vielleicht sind die Ärztin im Ruhestand oder der tags darauf in der Zeitung zitierte Sozialarbeiter einfach nur uninformiert und naiv, wenn sie ihre persönliche Beunruhigung oder Kritik gerade montags auf dem Markt in der bewussten Gesellschaft äußern.
Es steht erwachsenen Menschen jedoch gut zu Gesicht, auch jene Informationen, die ihnen unbequem sind, nicht auszublenden. Es reicht nicht, dass man von vielen der Spaziergänger*innen bestimmt sagen kann: „Die sind doch so nett!“
Die sogenannte Friedensbewegung 2.0, dann die Provinz-PEGIDA, jetzt die Impfkritiker*innen: Da gibt es Kontinuitäten – sowohl bei den Vertreter*innen und Wortführer*innen als auch in der keineswegs faktenbasierten Denk- und dann auch Handlungsweise. Und wenn die Pandemie vorbei ist, wird damit noch lange nicht Schluss sein. Vielleicht müssen wir uns dann montags auf dem Markt anhören, dass es keine Klimakrise gäbe und man keinesfalls Beschränkungen des motorisierten Individualverkehrs hinnehmen dürfe, weil … undsoweiter.
Anne Wolf, Februar 2022
Das Bündnis „Greifswald für Alle“ steht uneingeschränkt hinter dem Redebeitrag von Anne Wolf.